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Wie geht es eigentlich dem Turm im Märchen Rapunzel? Storytelling im Coaching... und Märchen mit Transaktionsanalyse. Gleich weiter schmökern und rausfinden, wie es dem Turm so geht:

"Ich bin der Turm"

Fest und schwer stehe ich hier – unbeweglich, mit Mauern so dick, dass aus mir kein Entkommen ist. Die Zeit ist für mich nichts. Tage, Jahre, das erfasse ich nicht. Keine Tür, keine Treppe habe ich. Wer auch immer es ist, dem ich Zuflucht gewähre, braucht viel Mut und Ideen, um mich wieder zu verlassen.Ich bin da, Tag und Nacht, immer gleich. Ich begrenze den Raum und den Horizont. Der Blick aus meinem einzigen Fenster ist stets derselbe, nur Licht und Jahreszeiten ändern sich, Bäume wachsen und werden gefällt, es wird gesät und geerntet. Ich gebe Struktur, sorge für Gleichmaß. Ich schotte ab und schütze. Auf das, was ich biete, ist Verlass.

Nicht jeder weiß es zu schätzen, mein Angebot. Letztens war ich für lange Zeit für ein junges Mädchen da. Täglich wurde sie hier in meinemZimmer von ihrer Mutter besucht, die sich an ihren Haaren herauf zog. Das Mädchen vertraute auf die mütterliche Wahrheit und auf mich. Ich bin überzeugt, sie hat nichts vermisst.Eng verbunden mit ihrer Mutter hat sie den immer gleichen Ablauf innerhalb meiner Mauern zufrieden gelebt.
Eines Tages ergab es sich, dass ein junger Mann – pfiffig war er - sich an ihrem Haar heraufkletternd Zutritt zu mir und zu ihrem Herzen verschaffte.Immer wieder stand er abends unterm Fenster und begehrte am goldenen Haarschopf hinauf gezogen zu werden. Nach dem er sich wieder verabschiedet hatte, versank Rapunzel in Selbstgesprächen.

„Turm, warum bin ich hier?“

„Was ist draußen?“

„Ich wüsste zu gern, was geschähe, wenn auch ich draußen sein könnte. Warum kann ich das nicht?“

So und ähnlich ging es stundenlang. Ich antwortete nicht. Ich bin der Turm, aber nicht die Antwort auf alle Fragen.

„Bin ich freiwillig hier?“

Na ja, dachte ich bei mir.... Nicht ganz. Weiter wollte ich nicht denken, hatte mich sehr an Rapunzel gewöhnt. Ich für meinen Teil war zufrieden mit unserer Allianz.Ich halte unendlich viel aus. Das ist meine Natur. Niemand merkt mir etwas an. Auch wenn ich innerlich bebe bleiben meine Mauern kalt, stark und fest.Rapunzel kam jedoch in Bewegung.

„Wenn ich doch nur hier raus könnte. Aber das kann ich nicht. Ich bin gefangen und werde niemals frei sein... oder vielleicht doch?“, hörte ich sie sinnieren.

So erzählte sie es auch dem jungen Mann, der alsbald einen Plan ersann, um sie zu befreien.Das schmerzte mich. Ich bin aus Stein und unbeweglich. Alles muss ich einfach ertragen.Meine Bewohnerin und der junge Mann schmiedeten Pläne und stets führte er das Wort.Die Mutter kam weiterhin täglich. Sie hatte vieles für Rapunzel aufgegeben, um immer für sie da zu sein. Ich spürte die Last dieser Liebe wie eine weitere Reihe schwerer Mauersteineauf meinen Zinnen.

Rapunzel richtete sich scheinbar wieder in ihrem Leben innerhalb der von mir gesetzten steinernen Grenzen ein. Den jungen Mann ließ sie nicht mehr hinauf klettern.Mein kalter Boden trug sie wieder, aber ich merkte, dass ihre Füße einen neuen, anderen Stand hatten, dass sie sich anders bewegten und immer wieder meine Oberfläche abtasteten, als hätte ich eine versteckte Tür nach draußen. Nicht der junge Mann, sondern der Wunsch nach Freiheit entfachten ihre Sehnsucht.

„Was...“, hörte ich sie denken, „wenn ich hinabsteige? Turm, was ist dann?“

Solche Ideen hatte ich von ihr noch nie gehört. Ich bekam es mit der Angst zu tun – mein Putz bröckelte.

Bin ich nicht ihre Sicherheit, ihre Perspektive? Es gelang mir, ihr das immer wieder durch meine unerschütterliche Präsenz zu verdeutlichen.Eines Tages war es soweit. Ich spürte regelrecht ihre Ungeduld und ihren Drang, sich zu bewegen. An einer meiner scharfen Kanten schnitt sich Rapunzel ihr goldenes Haar ab. Das war radikal – meine fest gefügte Mauer bekam Risse.

„Ach, das tut gut“, sagte sie,“Du alter Zopf – bleibst jetzt hier!“

Dann wickelte sie den Zopf geschickt ums Fensterkreuz und kletterte hinaus und hinunter. Unten blieb sie stehen und lehnte sich an meine raue Wand. Das ging alles sehr schnell.Ich spürte, wie sie zitterte und wollte sie am liebsten wieder hinein holen. Aber ich bin ja leider recht unbeweglich.Da legte sie ihre Hände auf die grobe Struktur meiner Außenwand und ich spürte ihre Kraft. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.

Rapunzel sagte: „Danke Turm. Du hast mir lange Schutz und Halt geboten. Ohne Dich wäre ich nicht die, die ich bin. Jetzt jedoch wage ich mich in mein Leben. Vielleicht werde ich ab und zu zurückkehren. Ich werde mich an Dich erinnern. Du wirst immer ein Teil meiner Geschichte bleiben. Jetzt gehe ich und werde ‚ich‘.“

Sie ging. Zögernd erst. Dann festen Schrittes.Am Waldesrand sah ich die Mutter stehen. Auch sie sah Rapunzel gehen. Sie stand und schaute, ganz ruhig.Ich stehe da, wo ich immer stand. Und ich weiß, es geht Rapunzel gut. Das hat mir ein Vöglein gezwitschert.

© Ute Kröger, 2018

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